Hauptsache, die Kirche bleibt »sauber« …

Von | 8. Februar 2010

Wer nicht selbst Opfer sexualisierter Gewalt geworden ist, kann kaum nachempfinden, welche tiefen Verletzungen an Körper und Seele solche Verbrechen verursachen. Insbesondere Kinder und Jugendliche, die sich in prägenden Entwicklungsphasen befinden, beschädigt der so genannte »sexuelle Missbrauch« so sehr, dass oft kaum noch Chancen für ein gelingendes Leben, eine vertrauensvolle Partnerschaft und eine erfüllte Sexualität bestehen. Bei der Beschäftigung mit diesem Thema müssen daher die Opfer im Mittelpunkt stehen, ihnen müssen Solidarität und Hilfe entgegengebracht werden, sie dürfen nicht in eine dauerhafte Opferrolle gezwungen werden. Beim jüngsten Skandal um sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche bemerkt man von dieser Perspektive (trotz des lobenswerten Engagements insbesondere von Verantwortlichen der Jesuiten) immer noch zu wenig.

Ein besonders widerwärtiger Fall von Opfer-Vergessenheit findet sich aber in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. Februar 2010. Dort verbreitet der Journalist Martin Lohmann, Sprecher des Arbeitskreises Engagierter Katholiken (AEK) in der CDU, Vorsitzender des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) und früher selbst Schüler des Jesuitengymnasiums Aloisiuskolleg in Bad Godesberg, ein Musterbeispiel kirchlicher Abwiegelei, Verdrängung und Bagatellisierung. Schon in der Überschrift ist der Zweck seines Textes klar erkennbar: »Schuld ist nicht ‚das System’«.

Bezeichnenderweise braucht Lohmann vier Sätze, bis ihm die Opfer sexuellen Missbrauchs eine Erwähnung wert sind. Es »leidet« zunächst der »Ruf des Jesuitenordens«, dann der Ruf »der Kirche auch«, die Missbrauchsmeldung »tut weh«. Erst dann bemerkt Lohmann, dass »wohl jenen, die unmittelbar betroffen waren und sind«, Leid zugefügt wurde. Mitfühlende, verständnisvolle Worte wie »Solidarität«, »Beistand«, »Hilfe« für die Opfer des Missbrauchs sucht man dann im weiteren Text auch vergeblich.

Wichtig ist Lohmann zwar die Aufklärung der Verbrechen (er empfiehlt den Slogan »Hinsehen. Erkennen. Handeln.«), aber offensichtlich vor allem, damit die »Institution Kirche« mit ihrer »Ordnung von Freiheit und Verantwortung« unbeschädigt aus dieser Krise herauskommt:

»Die Kirche ist kein ‚System‘. Sie versteht sich als mit Jesus Christus verbundene Heilsgemeinschaft und besteht aus Einzelpersonen, die selbst verantwortlich sind vor Gott und den Menschen.«

Zur Abwehr kirchenkritischer Fragen nach möglichen systemischen Ursachen für sexualisierte Gewalt und ihr jahrzehntelanges Totschweigen und Verdrängen durch die Kirchenleitung stellt er Thesen auf, ohne sich die Mühe von Belegen zu machen: »Am wenigsten ist die Sexuallehre der Kirche verantwortlich« – also auf jeden Fall noch weniger als die Opfer? Schnell geht es dann weiter mit platten Floskeln, die Lohmann von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. entlehnt; die Institution Kirche bleibt »rein« und weiß eigentlich alles besser:

»Die Kirche betont daher zu Recht die Kostbarkeit eines geordneten Sexuallebens, in dem Freiheit und Verantwortung gelebt werden. Freilich: das ist nicht ganz einfach in einer herrschenden durchsexualisierten Diktatur des Relativismus.«

Mit diesem Geschwafel werden die kirchlichen Täter exkulpiert, da in einer »Diktatur« keine »normalen Bedingungen« herrschen und ein »geordnetes Sexualleben« (d.h. Gewaltfreiheit sexueller Beziehungen) in den Augen Lohmanns offenbar ein seltenes Luxusgut darstellt. Sein jovialer Rat, man möge sich an »einer urkatholisch und eher barock geprägten, eigentlich sehr lebens-, leib- und lustfreundlichen Sexuallehre orientieren, die aber – o Schreck! – jede Freiheit an Verantwortung und Respekt koppelt«, ist an Zynismus kaum noch zu überbieten.

Anstatt wissenschaftlich seriöse Veröffentlichungen wie Rossetti/Müller (»Sexueller Mißbrauch Minderjähriger in der Kirche«), Bittler/Copray (»Mobbing und Mißbrauch in der Kirche«) oder Ulonska/Rainer (»Sexualisierte Gewalt im Schutz von Kirchenmauern«) zu Rate zu ziehen und dabei »Anstöße zur differenzierten (Selbst-)Wahrnehmung« zu bekommen, wettert Lohmann gegen Lebensentwürfe, die »rein lustorientiert« und »ausschließlich auf sexuellem Lustgewinn aufgebaut« sind. Wo hier der Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche sein soll, bleibt schleierhaft, der römische Klerus als hedonistische Spaßgesellschaft? Absurdere Thesen sind selten zu finden!

In ähnlichem Stil geht es weiter: Für das »Ansteigen der Kinderpornographie« sind grüne Alt-68er verantwortlich, verklemmt sind in Lohmanns Weltbild diejenigen, die sich »huldvoll verneig(en) vor jeder noch so absurden Verirrung«, »sich mit Fleischeslust und allenthalben erlaubter Triebbefriedigung zu begnügen können glauben und in niederer Erotik die Kostbarkeit wirklich verantwortlich gelebter Sexualität zu ertränken suchen«.

Die wertvollen Beiträge von katholischen Jugendverbänden, Pädagogen, Psychologen oder kirchenkritischen Organisationen zur Analyse der strukturellen Ursachen und zur Prävention sexualisierter Gewalt in der Kirche hat Lohmann offenbar nie zur Kenntnis genommen. Was von seinem unsäglichen Artikel zu halten ist, schreibt Lohmann selbst gleich im zweiten Absatz:

»Jeder Versuch der Verharmlosung vergrößert noch Leid, Schuld und Schmerz.«

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