Schrei der gequälten Kreatur

Von | 6. März 2002

»Ein Priester bricht das Tabu des Schweigens« – ein Buchtitel, der vielleicht die eine oder den anderen davon abbringt, sich auf eine Lektüre einzulassen. Oberflächliche Kirchenkritik, ein neuer »Pfaffenspiegel«, eine eifernde Abrechnung mit »Mutter Kirche«? Nein, das (vom Verlag Publik-Forum mit diesem Titel versehene) Buch von Bruno Ix ist die beeindruckende, bedrückende Lebensgeschichte eines Priesters.

Ix, seit 30 Jahren Pfarrer im kleinen Eifeldorf Dreiborn bei Schleiden, schildert sein Kindheit in einer heute kaum noch nachvollziehbaren liebes- und lebensfeindlichen Atmosphäre – im geschlossenen römisch-katholischen Milieu der NS-Zeit. Schon als Säugling geplagt von psychosomatischen Erkrankungen wie Neurodermititis und Asthma, fehlen Bruno im Elternhaus Wärme und Zärtlichkeit. Statt dessen muß er brutale Misshandlungen und drohende Einschüchterungen erfahren, vom Großvater, vom Dorfpfarrer; dazu die Schrecken der Bombennächte der letzten Kriegsjahre, der Vater in Rußland verschollen.

Der Erstkommunion Ende April 1945 geht quälender Beichtzwang voraus, eine rigide Sexualmoral weckt unerträgliche Gewissensbisse. Zur Erholung nach dem Krieg auf einen Bauernhof geschickt, wird der Zehnjährige dort aber Opfer sexuellen Mißbrauchs durch den Knecht – und Opfer des Dorfpfarrers, der das beichtende Kind für seine »Unkeuschheit« auch noch tadelt! Dreißig Jahre keinerlei Aufarbeitung, die Tränen eingefroren. In der Nachkriegsschule herrschen brutale Prügelstrafen, in Religionsunterricht und Gottesdienst Einschüchterung, Vergiftung der Seele – fortgesetzt bis in die Pubertät.

Tief geprägt durch das erfahrene Leid, brennend interessiert an existentiellen Fragen, fühlt Bruno Ix seine Berufung zum Priestertum. Der Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils bleibt für das Studium aber noch ohne Auswirkungen: der Prüfungsstoff im Kopf gespeichert aber das Herz zu kurz gekommen. Priesterweihe und Primiz erscheinen als erste Glücksmomente, »Erfolgserlebnisse« in seiner Kaplanszeit stellen sich ein: in der Auseinandersetzung mit engagierten Jugendlichen der Pfarre erlebt Ix einen schmerzlichen Lern- und Reifungsprozeß; als 35jähriger wird er Pfarrer von Dreiborn. Der Tod seiner Mutter im Jahr darauf weckt Schuldgefühle, eine Operation löst wegen erforderlicher Narkose albtraumhafte Ängste aus. Die jahrzehntelang verdrängten Erlebnisse werden zur tickenden Zeitbombe, erst 1978 beginnt er eine psychotherapeutische Behandlung.

Wichtig wird Ix die Freundschaft zum Aachener Bischof Klaus Hemmerle, hier erfährt er persönlich Verständnis und Ermutigung, im Bistum bemerkt er einen »neuen Stil des Miteinanders«. Nach Hemmerles Tod 1993 sieht Ix aber viele dieser Ansätze im Sande verlaufen, hoffnungsvolle Aufbrüche im Kirchenalltag erstickt; das Vermächtnis des Bischofs, die »Weggemeinschaft«, offiziell bei »Bistumstagen« beschworen, hält er für verraten.

Das Buch ist sachlich, fast ohne Emotionen geschrieben – vielleicht der einzig mögliche Weg, eine Lebensgeschichte zu beschreiben, die emotional kaum zu ertragen sein kann. Nach der Veröffentlichung erlebt Bruno Ix große Anteilnahme, unzählige Briefe, Telefonate, Einladungen zu Vorträgen. Bei den meisten Kollegen jedoch erntet er Unverständnis, von der Bistumsleitung scheint der Dialog unerwünscht, »sein« Thema wird systematisch verdrängt, er wird als »Störfaktor« angesehen oder ignoriert.

Warum erweist sich Kirche so unempfindlich gegenüber dem »Schrei der gequälten Kreatur«? Warum sind in den Sakramenten so oft Heil und Heilung nicht erfahrbar? Fragen, die sich nach der Lektüre aufdrängen und das Buch zu einer brennenden Anfrage an Pastoral und Theologie machen. Gerade empfindsame Seelsorger wie Bruno Ix verdienen Antwort und die Solidarität derer, die sich im Glauben an die Frohe Botschaft des Jesus von Nazareth zusammen finden.

 

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