Es war einmal vor langer Zeit, da kam in der römisch-katholischen Kirche so etwas wie »Frühlingsstimmung« auf. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) war besonders in Deutschland das Gefühl eines »Aufbruchs« verbunden, nie geahnte Möglichkeiten der Kirchenreform wurden angedacht. In diesen Jahren witzelte man über Zeitungsannoncen wie »Neupriester sucht junge Haushälterin, je nach Ausgang des Konzils spätere Heirat nicht ausgeschlossen«.
Junge Kapläne und aufmüpfige Pfarrer gründeten damals in fast allen deutschen Bistümern sogenannte »Priester- und Solidaritätsgruppen«, z.B. den »Aktionskreis Regensburg« (AKR). In dessen bis heute bestehenden Mitteilungsblatt, der »Pipeline«, findet sich soeben ein bemerkenswerter Text dokumentiert, der am 9. Februar 1970 von neun Theologieprofessoren unterzeichnet wurde, u.a. Walter Kasper, Karl Lehmann und Joseph Ratzinger. Das bisher geheim gehaltene »Memorandum zur Zölibatsdiskussion« schlummerte über vierzig Jahre im Archiv, die kritischen Katholiken in Regensburg haben es nun »den Unterfertigten zur Erinnerung« veröffentlicht.
Dort liest man mit ungläubigem Staunen, das einen immer ergreift, wenn man in Märchenbüchern blättert:
Die Unterzeichneten, die durch das Vertrauen der deutschen Bischöfe als Theologen in die Kommission für Fragen der Glaubens- und Sittenlehre der Deutschen Bischofskonferenz berufen worden sind, fühlen sich gedrängt, den deutschen Bischöfen folgende Erwägungen zu unterbreiten. Unsere Überlegungen betreffen die Notwendigkeit einer eindringlichen Überprüfung und differenzierten Betrachtung des Zölibatsgesetzes der lateinischen Kirche für Deutschland und die Weltkirche in ganzen.
»Die Fragerichtung der hier gemeinten Überprüfung …«
Die jungen Theologieprofessoren, die alle noch Karriere in ihrer Kirche machen wollten, beeilten sich, Zweifel an ihrer Rechtgläubigkeit zu zerstreuen:
Diese Petition ist keine Forderung von Gegnern des priesterlichen Zölibats. (…) Die Unterzeichner bitten die deutschen Bischöfe, die hier unternommenen Überlegungen in keiner Weise als eine Bekämpfung des Zölibats selber mißzuverstehen. (…) Die Fragerichtung der hier gemeinten Überprüfung geht folglich nur dahin, ob die bisherige Weise, in der die priesterliche Existenz realisiert wird, in der lateinischen Kirche die einzige Lebensform sein könne und bleiben müsse.
Nach dieser absichernden Vorrede folgen bemerkenswerte Anmerkungen zum Thema »Pflichtzölibat«:
Es ist nicht wahr, daß in dieser Frage alles klar bzw. sicher sei und daß man nur mit Gottvertrauen und Mut an dem Bisherigen festhalten müsse. (…) Es ist auch nicht so, daß das ganze Problem des Priestermangels in Zusammenhang dieser Überlegungen keine Rolle zu spielen habe. Natürlich ist der Priestermangel nicht allein durch die Zölibatsverpflichtung bedingt, sondern hat auch viele andere und tiefer liegende Gründe. Es wäre aber dennoch falsch, daraus zu schließen, daß die beiden Dinge gar nichts miteinander zu tun hätten. Wenn ohne Modifizierung der Zölibatsgesetzgebung ein genügend großer Priesternachwuchs nicht zu gewinnen ist – und diese Frage ist auch für unser Land immer noch bedrohlich offen – , dann hat die Kirche einfach die Pflicht, eine gewisse Modifizierung vorzunehmen. (…)
Wo es sich um eine Sache handelt, die kein Dogma im strengen Sinne ist, hat auch ein kirchlicher Gesetzgeber die Pflicht, die Auswirkungen seiner Gesetzgebung (einschließlich des Festhaltens an einer solchen) gebührend mitzuberücksichtigen. Dabei muß zuerst an jene Auswirkungen gedacht werden, die einerseits voraussehbar sind und anderseits einen größeren Schaden (im Vergleich zum Guten seiner Absichten) bewirken. (…)
»Dazu haben die Bischöfe das Recht und auch eine wirkliche Pflicht!«
Wir sind darüber hinaus auch der Überzeugung, daß der deutsche Episkopat bei Paul VI. für eine ernsthafte Überprüfung der Zölibatsgesetzgebung und seiner eigenen Erklärungen und Maßnahmen eintreten sollte. Dazu haben die Bischöfe das Recht und nach unserer Meinung in der heutigen Situation auch eine wirkliche Pflicht. Eine echte »Diskussion«, die schon längst an die Stelle des öffentlichen Geredes hätte treten sollen, würde auch hier kein Präjudiz für eine negative Lösung der Frage bedeuten. Eine solche Überprüfung sollte nicht unter der Voraussetzung erfolgen, Kirche und Papst ständen einfach vor den Dilemma, den Zölibat »abzuschaffen« oder ohne jede Nuance an der bisherigen Gesetzgebung und Praxis festzuhalten. Dieses Dilemma besteht in dieser Form nicht. Wir sind der Überzeugung, daß diese Frage von Rom nur in einer wirklich echten und kollegialen Zusammenarbeit mit dem Episkopat der Welt geklärt werden kann. (…)
Wir haben den deutschen Bischöfen keine Vorschriften zu machen. Wir haben aber das Recht und die Pflicht, in dieser notvollen Situation den Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz auf Grund unseres Amtes als Theologen und unseres Auftrags als Consultoren in aller Ehrfurcht vor ihrem hohen und verantwortungsvollen Amt zu sagen, daß sie in der Zölibatsfrage eine neue Initiative ergreifen müssen und weder durch die bisherige Praxis der Kirche noch durch die Erklärungen des Papstes allein sich davon dispensiert halten dürfen.
Für solche offenen Worte müsste man heute zumindest mit dem Ende seiner kirchlichen Karriere als Theologe rechnen. Weil die jungen Herren von 1970 aber nicht gestorben sind, leben sie noch heute: Walter Kasper wurde Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Kardinal und Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Karl Lehmann wurde Bischof von Mainz, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und (zur Belohnung für den Ausstieg aus der Schwangerschaftskonfliktberatung) Kardinal. Joseph Ratzinger, der nach einem kurzen Zwischenspiel als Erzbischof von München-Freising als langjähriger Kardinal-Präfekt der Glaubenskongregation und rechte Hand seines seligen Herrn Johannes Paul II. in Rom wirkte, regiert seit inzwischen fast sechs Jahren die römisch-katholische Kirche als Papst Benedikt XVI. …
»Was legitimiert Sie, zu einem innerkirchlichen Thema Stellung zu beziehen?«
Von einer Abschaffung des Zwangszölibats will dieser Papst heute nichts mehr wissen. Fromme CDU-Politiker, die sich mit vorsichtigen »Bitten« für eine Priesterweihe auch von verheirateten Männern (»viri probati«) einsetzen, lässt er stattdessen von seinem jüngst zum Kardinal beförderten Hofhistoriker Walter Brandmüller, der tobt, wie sonst das Rumpelstilzchen im Märchen, in einem »Offenen Brief« abmeiern:
Was legitimiert Sie als Politiker, zu einem innerkirchlichen Thema Stellung zu beziehen, das Sie weder von Amts wegen noch persönlich betrifft? Ihre Berufung auf den Priestermangel erscheint dabei in einem merkwürdigen Licht, bedenkt man die immer geringer werdende Zahl von Gottesdienstbesuchern und Gläubigen, die die Sakramente empfangen wollen. (…) Sie stellen damit eine Lebensform in Frage, die von der überwältigenden Zahl der Priester überlegt und aus freien Stücken übernommen wurde und treu gelebt wird. Für sie alle bedeutet Ihre Kampagne eine persönliche Beleidigung. Es kommt Ihnen anscheinend nicht in den Sinn, daß Sie damit auch Jesus Christus, den Sohn Gottes, selbst beleidigen. (…) Es sei darum die dringende Bitte ausgesprochen, diese Diskussion, die uns schon zum Überdruß belästigt und beleidigt und darüber hinaus die Verwirrung unter den Gläubigen vermehrt, zu beenden.
(Erstveröffentlichung dieses Beitrags im früheren Blog von Publik-Forum)