Warum sollten kritische Christinnen und Christen ein Buch über Kirchenrecht lesen? Ist das nicht eine total komplizierte Materie für Fachleute – lebensfremd, reformfeindlich und für den Alltag ohne Bedeutung?
Bereits im Vorwort ihrer neuen Einführung in das römisch-katholische Kirchenrecht (»konzipiert für den Erstkontakt«) machen Prof. Dr. Norbert Lüdecke und Prof. Dr. Georg Bier klar, welche Ziele sie mit ihrem neuen Buch verfolgen und welchen Nutzen die Leserinnen und Leser daraus ziehen können:
»Sie erfahren: Kirchenrecht ist nichts Mysteriöses oder Esoterisches, sondern eine auch sie betreffende Alltagsrealität. (…) Sie erfassen, dass und wie sich im Kirchenrecht das Selbstverständnis der Kirche, also amtliche Ekklesiologie, niederschlägt. Sie lernen im Kirchenrecht die lehramtlich verbindliche Theologie zu identifizieren (…). Sie kennen die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen ihres Handelns, können die Chancen für innerkirchliche Veränderungen sachgerecht und realistisch einschätzen und sich so in der katholischen Kirche als einer hochgradig rechtlich organisierten Glaubensgemeinschaft orientieren. (…) Sie werden geschützt vor einer Idealisierung durch Unkenntnis und so vor Enttäuschung über die real existierende Kirche« (S. 9).
Die beiden Autoren lehren an den Universitäten Bonn bzw. Freiburg und wollen mit ihrem Buch »exemplarische Fenster in das Kirchenrecht (…) öffnen«. Dazu ist der Text in thematische Einheiten (»Module«) gegliedert, die aufeinander aufbauen, aber auch einzeln studiert werden können. Als hilfreich erweisen sich dabei zusammenfassende Stichworte und Querverweise in der Randspalte, Kästen mit markanten Zitaten aus kirchenamtlichen Texten und anschauliche Grafiken. Jedes Kapitel schließt mit Literaturhinweisen zum Weiterlesen sowie Fragen und Aufgaben, für die es im Anhang jeweils »Lösungsskizzen« gibt.
Beim Lesen fällt das unvermittelte Nebeneinander der »kanonistisch korrekten«, präzisen Wiedergabe der kirchenamtlich verbindlichen Lehre und der sprachlich kreativen Beschreibung dieser Inhalte durch die Autoren auf, die das Verständnis für die ungewohnte Materie fördern soll. So heißt das Kapitel über das Verhältnis von Konzil und Kirchenrecht »Die Krönung«, das Thema »Kirchenaustritt« läuft unter der Überschrift »Katholisch für immer«, »Beichte« und »Ablass« werden unter »Jenseitsvorsorge« einsortiert, die Pflicht zum Besuch des Gottesdienstes sowie das verbotene »Messe-Schwänzen« unter »Immer wieder sonntags« behandelt, ebenso die Erinnerung, dass der Einsatz von »Messmädchen nach Priesterermessen« (S. 201) erfolge. Kirchenamtliche Verweise auf eine »wahre Gleichheit (vera aequalitas)«, die »wahre Aufwertung der Frau« oder die »wahre Freiheit (vera libertas)« werden als Anwendungsbeispiele eines »Vera-Prinzips« beschrieben, der Begriff »›wahr‹ (…) als Ventil- oder Schleusenwort« in eine spezielle »katholische Semantik« (S. 72) eingeordnet.
Zum Thema »Frauenordination« (behandelt unter dem treffenden Slogan »Nur für Männer«) geben Lüdecke und Bier die für alle Gläubigen verbindliche und »unfehlbar« vorgelegte Position des kirchlichen Gesetzgebers wieder:
»Nach amtlicher Lehre besteht in der katholischen Kirche die unaufgebbare Überzeugung, Gott wolle Frauen nicht zum besonderen Priestertum berufen. Was Klerikern vorbehalten ist, können Männer nicht ohne besondere Berufung, Frauen können es nach endgültig festzuhaltender Lehre niemals. Frauen können in der Kirche vielerlei. (…) Insofern Frauen im Gefolgschaftsstand fixiert sind, ist der ständische Aufbau der Kirche rechtlich eine Geschlechterhierarchie. Wer darin einen Verstoß gegen die Gleichheit der Menschen und die daraus folgenden Gebote der Demokratie und der Gleichberechtigung sieht, legt rein weltliche Maßstäbe an und vergisst die geistliche Dimension des komplexen Kirchengebäudes« (S. 23).
Das mag hart klingen, trifft den Sachverhalt aber treffender als die meisten »Visionen« und »Kirchenträume«, die in den letzten Jahrzehnten ganze Bücherregale gefüllt haben.
Vage (und weitgehend unerfüllte) Hoffnungen auf Kirchenreformen »im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils« werden in kirchenrechtlicher Analyse mit der ernüchternden Realität konfrontiert. Die Autoren machen deutlich,
»was das Konzil bei der ›Aufwertung der Laien‹ geleistet hat: Es ist ihm gelungen, die ekklesiologische Bedeutung der Taufe wiederzugewinnen. Hatte der alte CIC die pyramidale Struktur der Kirche so ausgeleuchtet, dass nur die klerikale Spitze erkennbar war, stellte das Konzil die Scheinwerfer so auf, dass die ganze Pyramide, samt ihres riesigen Unterbaus zu erkennen war. Die unaufgebbare ständisch-hierarchische Struktur war und ist damit nicht in Frage gestellt« (S. 103).
Wer mögliche theologische Spielräume sucht oder auf eigenverantwortete Positionen besteht, erhält die klare Ansage:
»Ein eventueller Mangel an Einsicht in die inneren Gründe einer nicht-definitiven Lehre ist mit Hilfe eines Willensaktes zu überbrücken und auf diese Weise in eine innere Zustimmung zu überführen. Möglich ist dies nur in einem Gehorsam aus religiöser Motivation, die in der Anerkennung der kirchlichen Autorität besteht. Inhaltliche Evidenz ist auf der religiösen Ebene verzichtbar. (…) Wer zu der Überzeugung gelangt ist, einer verbindlichen Lehre aufgrund besserer Einsicht nicht zustimmen zu können, darf nicht weiter gehen, als mit dem traditionellen gehorsamen Schweigen angezeigt, damit seine Probleme mit der Lehre nicht über den privaten Bereich hinaus erkennbar werden und so andere verunsichern können« (S. 86/87).
Bei aller systemstimmigen Orientierung an der offiziellen Lehre blenden die Autoren die Lebenswirklichkeit der »normalen« Kirchenmitglieder nicht aus:
»Ist nicht öffentliche Kritik gegen lehramtliche Äußerungen, Entscheidungen, Gesetze und Anordnungen der kirchlichen Autorität an der Tagesordnung? (…) Diese Kluft zwischen Lehre/Recht und kirchlichem Leben ist ein Faktum. Wer aber den Charakter einer objektiven Rechtsordnung erfassen will, muss nach den Grundsätzen der rechtlichen Regelungen fragen, nicht nach ihrer abschwächenden Anwendung. (…) Worin Soziologen ›unausweichliche Anpassungszwänge‹ an den gesellschaftlichen Wandel sehen, kann die kirchliche Autorität nur erkennen, was es nach der rechtlichen Anspruchsgestalt der Kirche ist: Ungehorsam, in dem Katholiken mit der Wahrheit ihre wahre Freiheit verfehlen. Sie sind deshalb um ihretwillen in die kirchliche Ordnung zurückzubeugen« (S. 94/95).
Dabei sollen auch akustische Signale helfen:
»Wer die Sonntagsglocken hört, weiß: Es geschieht wieder millionenfacher Rechtsbruch. Der im amtlichen Sinne ›gute‹ Katholik wird sich davon jedoch nicht entmutigen lassen«, sondern sich »angespornt fühlen, (…) mindestens einen Messsäumigen in seinem Umfeld (zu) überzeug(en)« (S. 204).
Mancher mag das Buch nun kopfschüttelnd oder gar belustigt beiseitelegen, andere werden den Autoren empört fehlende Reformvorschläge vorwerfen – für inhaltliche Kritik am korrekt dargestellten Kirchenrecht als die in juristische Form gegossene »herrschende« Ekklesiologie sind diese jedoch die falschen Adressaten.
Welche Vorteile der ungewohnte methodische Ansatz der beiden Kirchenrechtler aber bietet, zeigt sich vor allem im letzten Kapitel »Missbraucht«: In selten zu findender Klarheit und Präzision wird das Phänomen sexualisierter Gewalt durch römisch-katholische Kleriker und das strukturelle Versagen ihrer kirchlichen Vorgesetzten analysiert; Verharmlosung »nicht selten wider besseres Wissen«, »die Untätigkeit und das gravierende Versagen von Diözesanbischöfen« (S. 243) und die »kirchliche Verschleierungspraxis« (S. 250) werden offen benannt:
»An einer vollständigen Klärung des Sachverhalts waren die Diözesanbischöfe eher nicht interessiert. Die Opfer wurden nicht gehört oder ihnen wurde nahegelegt, die Angelegenheit nicht öffentlich zu machen. In zahlreichen Fällen sind Geldzahlungen gegen Schweigen belegt« (S. 238 f.).
Die Autoren erklären diesen Skandal überzeugend durch die Erläuterung der »spezifisch hierarchische(n) Struktur« der Kirche, in der es »kraft göttlicher Anordnung (…) Kleriker und Laien« gebe. Das zur Systemstabilisierung erforderliche »klerikale Standesbewusstsein« werde »durch zahlreiche rechtliche Regelungen präsent gehalten« (S. 239). Die der »Ständehierarchie « entsprechende »Asymmetrie der Verantwortung« werde »bei Klerikern durch ritualisiertes Versprechen, Bekennen und Beeiden religiös aufgeladen«, die »fehlende Pflicht zur Rechenschaftslegung ›nach unten‹ macht es den Autoritäten strukturell einfacher, bestimmte Vorgänge nicht offenzulegen und Gründe für konkrete Maßnahmen nicht aufzudecken« (S. 240 f.).
Eher skeptisch sehen die Autoren (auch angesichts des geringen Spielraums) die inzwischen vorgenommenen strukturellen Änderungen und Präventionsmaßnahmen: Trotz fehlender humanwissenschaftlicher Erkenntnisse zur unterstellten »größere(n) sexuelle(n) Präferenz für Kinder oder Jugendliche« bei Schwulen sei mit dem 2005 eingeführten Weiheverbot eine »pauschale Selektion homosexueller Männer« (S. 242) erfolgt, die »Leitlinien« der Deutschen Bischofskonferenz seien »rechtlich (…) lediglich eine unverbindliche ›Grundlage‹« (S. 244) und »nur Empfehlungen« (S. 252), im kirchlichen Strafverfahren bleibe der »Vorrang klerusinterner Abwicklung « (S. 246) festgeschrieben. Erhellend sind die Hinweise auf den Umgang mit Prozessakten in den diözesanen Geheimarchiven und das vom obersten kirchlichen Gesetzgeber 2010 erneut eingeschärfte »Päpstliche Geheimnis«, zu dem die Frage referiert wird, ob es »in diesem Zusammenhang nicht kontraproduktiv ist« (S. 252).
Als »konstitutiv staatsanalog-vordemokratisches Recht« entspricht das Kirchenrecht nach Ansicht der Autoren dem juristischen System eines »neuzeitlichen absolutistischen Obrigkeitsstaates mit dem nur moralisch gebundenen Monarchen an seiner Spitze« (S. 26). Statt die kirchliche Lehre »im Sinne persönlich geschätzter theologischer Ansätze umzubiegen«, schließen sich Lüdecke und Bier ihrem verstorbenen Lehrer Werner Böckenförde an: »Nur der unverstellte Blick befähigt zu Kritik« (S. 41). Das Buch kann daher gleichermaßen anregend wie aufregend wirken: Für Kirchenreformer, die ihr Engagement selbstkritisch reflektieren möchten, für ökumenisch Interessierte aus anderen Kirchen und alle, die »einfach wissen möchten, was die römisch-katholische Kirche ist bzw. in der Sicht des Stellvertreters Christi sein soll und wie sie funktioniert« (S. 10).
Rezension von Prof. Dr. Knut Walf in der Zeitschrift »imprimatur«: http://imprimatur-trier.de/2012/imp120717.html#T3
Rezension von Prof. Dr. Klaus Lüdicke im MFThK: http://www.theologie-und-kirche.de/rezension-luedecke-bier.pdf
Rezension von Norbert Bauer im Pastoralblatt 7/2013: http://theosalon.blogspot.de/2013/07/die-wahre-gleichheit.html
Rezension von Markus Graulich SDB in der »Theologisch-Praktischen Quartalschrift« 2/2014:
http://www.biblio.at/literatur/rezensionen/opac.html?action=search&nachname=&isbn=978-3-17-021645-7#ui-tabs-1
Rezension von Prof. Dr. Heinrich de Wall in der Theologischen Literaturzeitung 10/2013: http://www.thlz.com/artikel/16385/