»Alle Jahre wieder …« beschwört eine merkwürdige Allianz von Kirchenvertretern und Politikern des rechten oder sogenannten »wertkonservativen« europäischen Parteienspektrums den Untergang des angeblich »christlichen Abendlandes«. Dies geschieht nicht etwa im Rahmen der Bußfeier eines Gottesdienstes, wo das zerknirschte Bekenntnis von »mea maxima culpa«, man habe »Gutes unterlassen und Böses getan, gesündigt in Gedanken, Worten und Werken«, seinen liturgischen Platz hat. Anlass für das stereotype kulturpessimistische Lamento ist auch kein selbstkritisches Nachdenken über das eigene Scheitern an den hehren moralischen Idealen. In den meisten Fällen sind es höchstrichterliche Urteile zu staatskirchenrechtlichen Streitfällen, etwa der kopftuchtragenden muslimischen Lehrerin oder der Vorschrift, in öffentlichen Gebäuden Kruzifixe aufzuhängen.
So auch Anfang November 2009, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Fall einer Mutter entschied, die gegen die in staatlichen Schulen Italiens seit den Zeiten des faschistischen Diktators Mussolini gesetzlich vorgeschriebenen Kreuze geklagt hatte. Das Gericht erklärte, dass die an der Wand angebrachten Kruzifixe ein »religiöses Symbol« des römischen Katholizismus‘, der »Mehrheitsreligion in Italien«, darstellten. Die damit verbundene Behinderung einer Erziehung im Sinne einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft sei ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Ausgerechnet die Minister der rechtspopulistischen Regierung Berlusconi, Hand in Hand mit Vertretern des Vatikans, empören sich nun über das Urteil.
Es ist eine geradezu paradoxe Situation, dass ausgerechnet von den lautstarken Verteidigern von Kruzifixen in öffentlichen Gebäuden das Kreuz nicht als »gefährliche Erinnerung« (Johann Baptist Metz) an Leben und Sterben des Jesus von Nazareth verstanden, sondern als quasi »europäisches Kulturlogo« gedeutet wird. Gegen diese Instrumentalisierung ihres Glaubenssymbols sollten sich gerade Christen wehren, wie Prof. Dr. Ulrich Körtner, Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, in einem klugen Gastkommentar in der österreichischen Zeitschrift Die Presse anmerkt:
»Ebenso wie Kultur, Gesellschaft und Staat vor einer Klerikalisierung zu schützen sind, so ist auch der christliche Glaube gegen seinen ideologischen und politischen Missbrauch zu verteidigen. Wer am Kreuz Anstoß nimmt, hat möglicherweise mehr von der Anstößigkeit der christlichen Botschaft verstanden als so mancher ‚Kulturchrist‘.«
Konsequenterweise stößt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs daher keineswegs nur bei Atheisten oder Nichtchristen Italiens auf Zustimmung. Auch Vertreter protestantischer Minderheiten (u.a. die Vereinigung Evangelischer Christen Italiens, die reformierte Waldenserkirche oder die Siebenten-Tags-Adventisten) haben das Kruzifix-Urteil begrüßt. Als Emblem in Nationalflaggen und Mode-Accessoire habe das Kreuz jeden religiösen Hinweischarakter eingebüßt, schreibt der Schriftsteller Umberto Eco im italienischen Magazin L’Espresso und meint:
»Wenn ich Papst wäre, würde ich verlangen, dass ein so geschmähtes Symbol aus Respekt aus den Klassenzimmern verschwindet.«
[carousel asins=“3540720480,3640377559,3638636992,3631360371,3893258124,3451021625,3858271187,3889970648,340651734X,3161490347,3531153099″ title=“Bücher zum Thema“ shuffleProducts=“True“]
Der aktuelle Fall »Lautsi vs. Italien« weckt Erinnerungen an den bayerischen Kruzifix-Streit: Als im Sommer 1995 der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bekannt wurde, nach der das staatlich vorgeschriebene Anbringen von Schulkreuzen der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit widerspreche, schlugen die Wellen der Erregung hoch, der römisch-katholische Erzbischof von München, Kardinal Wetter, stemmte sich (eingereiht in eine Phalanx beflissen-empörter CSU-Funktionäre) einer autosuggestiv beschworenenen »Christenverfolgung« entgegen.
»Die konkrete Begründung der Entscheidung spielte bei den teilweise sehr scharfen Angriffen von Politikern, aber auch in Stellungnahmen kirchlicher und anderer Interessenvertreter sowie in Leserbriefen kaum je eine Rolle. (…) Es gibt keine denkbare, selbst bis ins Lächerliche gehende oder mit böser Polemik verbundene stimmungsmachende Einzelargumentation, die von Juristen nicht vertreten wurde, um die Entscheidung anzugreifen«,
kritisiert Gerhard Czermak in seinem Lehrbuch »Religions- und Weltanschauungsrecht« (Berlin/Heidelberg 2008, S. 146). Dem Bonner Rechtswissenschaftler Isensee gelang beim Versuch der Begründung seiner abstrusen Thesen (die Schüler seien nicht gezwungen, das Kreuz als religiöses Symbol zu akzeptieren; jeder Schüler sei »dem Wandkreuz gegenüber frei, ob er es wahrnimmt oder ignoriert«) sogar die bemerkenswerte Formulierung:
»Das unausschöpfbare Sinnpotential des Kreuzes reduziert sich nicht ausgerechnet dadurch auf seine religiösen Elemente, daß es an der staatlichen Schulwand hängt.« (ZRP 2006, 10)
Man kann aber nicht ernsthaft bestreiten, dass das Kreuz das religiöse Hauptsymbol des Christentums darstellt und im Allgemeinen auch so wahrgenommen wird. Genau deswegen wird es seit Jahrzehnten im Rahmen der Erziehung zur »Ehrfurcht vor Gott« (so die Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern und NRW, ähnlich auch Rheinland-Pfalz!) in den Schulen angebracht, dafür sorgte nicht zuletzt die Partei mit dem »C« im Namen. Und gerade deshalb erhob sich ja der laute Protest gegen die BVerfG-Entscheidung fast auschließlich im Lager von Amtskirchen und Christdemokraten:
»Wenn das Schulkreuz keinerlei Wirkung entfalten würde, gäbe es auch keinen verständlichen Grund, warum es angebracht werden sollte.« (Czermak, S. 149)
Wirklich überzeugte (und überzeugende) Christen werden sich indes nicht auf Gesetze verlassen, die mit schwammigen kulturtheoretischen Überlegungen verteidigt werden, sondern in ihrer Alltagspraxis versuchen, glaubwürdig vorzuleben, um was es im Evangelium eigentlich geht – notfalls auch im Widerstand zu staatlichen Vorschriften. Darauf weist auch Hartmut Meesmann in der jüngsten Ausgabe (Heft 22, erscheint am 20. November 2009) von Publik-Forum, der Zeitung kritischer Christen, hin:
»Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Denn im gesamten öffentlichen Raum braucht es die weltanschauliche Selbstbescheidung nicht, die dem Staat auferlegt ist. Profilieren können und müssen sich Christen durchs Handeln: im alltäglichen Miteinander, in der Erziehung, in der Sozialarbeit, in der Friedenspolitik, im Wirtschaftsleben, in der öffentlichen Wertedebatte, in Ritualen der Unterbrechung. An einem selbstbewussten, einladenden und dem Gemeinwohl verpflichteten Handeln zeigt sich entscheidend, ob das christliche Erbe Europas noch lebendig ist und auch weiter prägend sein kann – nicht aber an aufgehängten Kreuzen in der Schule.«